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Oberbürgermeister Dr. Herbert Wagner zum Tag der Deutschen Einheit 2000

Pressemitteilung

2. Oktober 2000 / l / r / dre

Oberbürgermeister Dr. Herbert Wagner zum Tag der Deutschen Einheit 2000

Empfang der Bürgerdelegationen (auf Einladung/presseoffen)

am 3. Oktober 2000, 18 Uhr, im Rathaus, Plenarsaal

- Es gilt das gesprochene Wort -

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Gäste aus ganz Deutschland,

zum Tag der Deutschen Einheit 2000 grüße ich Sie alle ganz herzlich in Dresden - einer Stadt, in der sich die friedliche Revolution gegen den Sozialismus besonders früh und besonders machtvoll entfaltete.

Vor elf Jahren, am 3. Oktober 1989, untersagte die DDR-Regierung den visafreien Verkehr in die CSSR. Als am nächsten Tag die Flüchtlingszüge von Prag durch Dresden rollten, da gab es kein Halten mehr. Die Dresdner machten ihrem jahrelang angestauten Protest massenweise Luft. Der Bankrott des Sozialismus wurde vor aller Welt sichtbar. Die Staatsmacht schlug noch einmal brutal zu, aber die Demonstranten bewahrten ungeheure Disziplin und Männer der Kirche waren beherzt zur Stelle. Am 9. Oktober kam es zum ersten Rathausgespräch, dem Vorläufer der Runden Tische überall in der DDR.

Ein Jahr später, in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990, knallten die Sektkorken und die Feuerwerkskörper. Das Jahrzehnte lang Unvorstellbare wurde Wirklichkeit: Deutschland war wieder geeint. Zum ersten Mal in unserer Geschichte ohne Blut und Eisen! Kein Mensch musste gewaltsam sterben.

Mehr als vierzig lange Jahre brauchte es, bis die Deutschen die Einheit in Freiheit errangen. Unsere friedliche Revolution im Herbst 1989 stand unter einem besseren Stern als die von 1848. Das Volk wollte die Freiheit, das Volk wollte die Einheit - und diesmal hatte es auch den Staatsmann, der entschlossen und instinktsicher die günstige weltpolitische Situation nutzte. Am 19. Dezember 1989 vor der Frauenkirche in Dresden wurde es dem Bundeskanzler bewusst und vom Volk manifestiert: Die geschichtliche Stunde war da. Die deutsche Einheit durfte und würde nicht mehr länger auf sich warten lassen. Jetzt musste die Chance genutzt werden. Mit Helmut Kohl sprach uns zum ersten Mal ein westdeutscher Politiker an mit "liebe Landsleute", zum ersten Mal bekannte sich ein westdeutscher Politiker in einer Rede auf dem Boden der DDR zum Ziel der deutschen Einheit. Unbeschreiblicher Jubel zehntausender Dresdner gab die Antwort. Ein Jubel, der am 3. Oktober 1990 im Freudentaumel überall in Deutschland gipfelte.

Und dann folgten zehn Jahre, die es in sich hatten. Eine aufregende und beglückende Zeit, für Dresden sicherlich das beste Jahrzehnt des Jahrhunderts, aber auch eine schwierige und mit harten Einschnitten verbundene Zeit. Für viele begann die Freiheit mit einer herben Enttäuschung: Sie wurden arbeitslos. 1989 auf die Straße gegangen - und jetzt auf die Straße gesetzt!

Eine verseuchte Umwelt, eine zerrüttete Bausubstanz und eine bankrotte Wirtschaft - das war die Erblast, die wir 1990 vom Sozialismus übernahmen. Ausgerechnet der Sozialismus, jene Ideologie, die versucht hat, das ganze Wesen des Menschen und die gesamte Weltgeschichte allein mit Begriffen der Ökonomie zu erklären, hat in der Praxis gerade auf diesem, ihrem ureigenen Gebiet kläglich versagt. Die Wirtschaft unter dem Kommando des Staates ist gescheitet!

Als die Wirtschaft unter der Käseglocke auf einmal dem Wind des Wettbewerbs ausgesetzt war, da fegte dieser vieles hinweg. Pentacon unterm Hammer, Aus für Erika-Werke, Treuhand ließ ZMD fallen - Solche Schlagzeilen begleiteten uns in den Anfangsjahren fast jeden Tag. Wir hörten oft die Frage: Blühende Landschaften hat man uns versprochen, aber was ist daraus geworden? Zugegeben, wir dürfen weit reisen, haben Kiwis und Bananen im Supermarkt, aber ansonsten? Arbeitslosigkeit, Angst vor Entlassungen, Lehrstellenknappheit, Konkurrenzkampf, Stress, Kriminalität, Unsicherheit über die Zukunft - sind das die blühenden Landschaften?

Die Ausrüstung der Betriebe war ebenso völlig veraltet wie unsere städtische Infrastruktur, ob Straßen, Brücken, Versorgungsnetze oder Gebäude aller Art. Unsere Gewerbegebiete waren mit horrenden Altlasten belegt - mit abbruchreifen Bauten, verseuchter Umgebung, verstrahlter Erde in Coschütz-Gittersee und gefährdetem Grundwasser. Allein in Dresden fehlten uns hunderte Hektar Gewerbefläche, Millionen Quadratmeter Büroraum, hunderttausende Quadratmeter Einzelhandels-Verkaufsfläche, zehntausende Wohnungen und tausende Hotelbetten. Und wer sollte hier investieren? Wir wussten doch nicht mal, welche Flächen wem gehörten in dieser Stadt! Das Horrorwort jener Tage hieß ungeklärte Eigentumsverhältnisse, jeden Tag gingen waschkörbeweise Restitutionsansprüche im Rathaus ein, die sich auf die Hälfte der bebauten Fläche in Dresden summierten.

Wovon wir bis 1990 in Dresden genug hatten, das waren Kasernen, Waffen, Soldaten - auf riesigen Flächen, zum Beispiel auf dem Gelände, auf dem heute Dresdner Ingenieure und Arbeiter Mikrochips für den Weltmarkt produzieren. Oder an der Radeburger Straße, wo heute Deutschlands modernste Illustrationsdruckerei steht. Oder in Nickern, wo wir heute Wohnungsbau haben. Oder in der Albertstadt, wo heute der MDR sein Landesfunkhaus hat. Oder in der ehemaligen Königlich-sächsischen Heeresbäckerei, wo heute Deutschlands modernstes Stadtarchiv steht. Über 30.000 Soldaten, die Hälfte NVA, die andere Hälfte Sowjet-Truppen, waren in Dresden stationiert, heute sind es noch 1300 Bundeswehr-Soldaten. Schwerter zu Pflugscharen - wer hätte gedacht, dass unser Traum des Herbstes 1989 Wirklichkeit werden würde.

Wer hätte zu prophezeien gewagt, dass die modernsten Chipfabriken Europas in Dresden entstehen? Wer hätte geglaubt, dass das Dresdner Chipwerk zum Leitwerk des weltweiten Fertigungsverbundes von Siemens werden würde? Heute produziert der Medien-Gigant Gruner + Jahr britische, französische und osteuropäische Zeitschriften in Dresden, heute ist der Ansturm auf die neue Volksaktie Infineon mit dem Namen Dresden verbunden, heute führt der amerikanische High-Tech-Riese AMD seinen Kampf um Weltmarktanteile von Dresden aus, heute baut Volkswagen die erste Gläserne Manufaktur der Welt in Dresden!

Unsere Braunkohlen-Dreckschleudern sind durch moderne Kraftwerke ersetzt, die nicht mehr die Luft verpesten, die Stadt ist auf das umweltfreundliche Erdgas umgestellt, unser Trinkwasser ist so sauber wie nie zuvor, in der Elbe schwimmt wieder der Lachs. Unsere Heime und sozialen Einrichtungen haben sich verwandelt oder sind überhaupt erst neu entstanden, unsere einst maroden Krankenhäuser weisen heute einen hervorragenden Zustand auf - baulich, technisch und medizinisch.

Dresden hat einen Bauboom erlebt wie nie zuvor, Dresden glich in den neunziger Jahren einer einzigen Großbaustelle. Ob in Altstadt oder Neustadt, in Gorbitz oder auf dem Weißen Hirsch - nicht nur ganze Häuser, nicht nur ganze Straßenzüge, nein ganze Viertel, ganze Wohngebiete, ja die ganze Stadt ist nicht mehr wieder zu erkennen.

Noch 1990 standen die Schlangen vor dem Wohnungsamt, suchten 30.000 Dresdner vergeblich eine Wohnung. Und heute? Dresden verfügt über ein breites Angebot an Wohnungen aller Preisklassen und Eigentumsformen, Dresden wurde vom Wohnungs-Notstandsge- biet zum Mieterparadies. Die soziale Marktwirtschaft hat bewiesen, dass sie funktioniert!

Über sechs Millionen Touristen pro Jahr bewundern den wieder aufpolierten Canaletto-Blick, der Hausmannsturm kündet vom Wiederaufbau des Residenzschlosses. Taschenbergpalais und Coselpalais, aus dem Nichts zurückgewonnen, erstrahlen im alten Glanz, auf der anderen Elbseite die barocke Innere Neustadt mit der Königstraße. Menschen aus aller Welt spenden für die Frauenkirche und die Synagoge. Selbst die so kritische Wochenzeitung Die Zeit schreibt 1999: Es stimmt schon: wer blühende Landschaften sucht, kann sie in Dresden besichtigen.

Jawohl, meine Damen und Herren, wir haben die Ärmel aufgekrempelt und dafür gearbeitet, dass diese Region, dass unser Sachsen und unser Dresden wieder aufblühen. Wir haben dafür gemeinsam gearbeitet - gemeinsam mit unseren Landsleuten in Westdeutschland, ohne deren finanzielle Hilfe wir heute kaum besser dastünden als unsere Nachbarn im Osten. Es macht unsere eigene Leistung kein bisschen geringer, wenn wir für diese Solidarität ohne jede Scham dankbar sind, schlicht und einfach dankbar!

Unsere westdeutschen Landsleute haben uns nicht nur Geld zur Verfügung gestellt, viel Geld, nein, was noch wichtiger ist: Menschen sind hierher gekommen und haben sich mit uns gemeinsam in die Aufbauarbeit hineingekniet - mit ihrem Know-how, ihrer Erfahrung und ihrer ganzen Person. Stellvertretend für diese Menschen nenne ich einen Mann: unseren Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf. Wir alle wissen, über alle Parteigrenzen hinweg, was wir ihm zu verdanken haben!

Meine Damen und Herren, die nächsten zehn Jahre werden kaum weniger aufregend als die vorangegangenen. Die wichtigste Investition in die Zukunft haben die Dresdner wie auch die übrigen Sachsen und Ostdeutschen vergessen: Unsere Geburtenrate ist auf die Hälfte gesunken und erholt sich nur langsam. Das totale Umkippen unserer Alterspyramide mit tiefgreifenden Folgen für unsere sozialen Sicherungssysteme wirft in ganz Deutschland seine Schatten voraus. Die anderen Herausforderungen heißen Globalisierung und Europäisierung. Der Weltmarkt löst die nationalen Märkte ab, städtische Monopole in der Daseinsvorsorge fallen. Eine Stadt wie Dresden steht heute im Wettbewerb mit Städten in ganz Europa.

Meine Damen und Herren, wir werden auch diese Herausforderungen meistern - wenn wir zusammenhalten, wenn wir das Geleistete nicht schlechtreden, sondern gemeinsam arbeiten in dem seit 1990 vielfach gelebten Geist der Solidarität. Und am Tag der Deutschen Einheit sollten wir das tun, was uns Deutschen manchmal so schwer zu fallen scheint: uns einmal richtig freuen. Nicht mehr und nicht weniger. In diesem Sinne wünsche ich uns und allen unseren Landsleuten einen fröhlichen Tag der Deutschen Einheit.




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