Landeshauptstadt Dresden - www.dresden.de

https://www.dresden.de/de/leben/gesellschaft/migration/asyl/statements/kristina-winkler-2014-11-24.php 05.10.2015 12:45:20 Uhr 19.04.2024 17:21:57 Uhr

»Angst vor Fremden ist menschlich«

Die amtierende Dresdner Integrations- und Ausländerbeauftragte Kristina Winkler im Gespräch

Als amtierende Integrations- und Ausländerbeauftragte kennen Sie sowohl die Bedürfnisse von Ausländern, die nach Dresden kommen, als auch die Sorgen der Einwohner dieser Stadt. Wie viele Flüchtlinge werden denn in die Landeshauptstadt kommen? Wie schätzen Sie diese Zahlen ein?

Schauen wir mal in das Jahr 2013. Zum Jahresende gab es weltweit 51,2 Millionen Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene. Darunter befanden sich 33,3 Millionen Menschen, die in ihrem Heimatland auf der Flucht waren (Binnenvertriebene). Weitere 16,7 Millionen galten als Flüchtlinge, weil sie in andere Länder flohen. Lediglich 1,1 Millionen Menschen stellten weltweit einen Asylantrag. Davon entfielen 2013 genau 127.023 auf die Bundesrepublik. Nach Sachsen kamen 5.040 Personen, davon wurden wiederum 748 in Dresden untergebracht. In der Bundesrepublik haben 2013 also 0,2481 Prozent aller weltweit Geflohenen Schutz gesucht. Auf Dresden bezogen waren es 0,0015 Prozent. Ich denke, angesichts dieser Zahlen relativieren sich die derzeit verbreiteten Szenarien, die von „unbeherrschbaren Flüchtlingsströmen“ und „dramatisch gestiegenen Zahlen“ sprechen oder von der Angst getragen sind, dass bald alle 7,5 Milliarden Menschen in Deutschland Asyl beantragen könnten. Und wenn die aktuellen Prognosen der Landesdirektion Sachsen zutreffen und Dresden im Jahr 2016 rund 2.000 neue Asylsuchende aufnehmen wird, dann leben vielleicht 4.000 Flüchtlinge in Dresden, was circa 0,0078 Prozent aller weltweit Geflohenen ausmacht und wirklich kein Grund ist, in Panik zu geraten.

Aus welchen Ländern kommen die Flüchtlinge und warum?

Die Hauptherkunftsländer der Asylsuchenden in Dresden sind derzeit die Russische Föderation, Tunesien, Indien, Eritrea, Syrien und Afghanistan. Die Fluchtgründe sind vielfältig. Sie reichen von Krieg, Bürgerkrieg, staatlicher Willkür und Gewalt, Verfolgung aus politischen, religiösen, ethnischen oder geschlechtsbezogenen Gründen über Natur- und Umweltkatastrophen bis hin zu Folter oder Ermordung. Um ein Beispiel zu nennen: In Tscheschenien sind tausende Menschen in den letzten Monaten vor der Skrupellosigkeit des tschetschenischen Machtapparats geflohen. Nach einem Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker drohen mutmaßlichen Gegnern des Regimes und deren Angehörigen das „Verschwindenlassen“ sowie Folter in Haftanstalten oder an geheimen Orten.

In den vergangene Tagen wurde ich öfter gefragt, warum vor allem Männer als Asylsuchende kommen. Ich denke, auch das hat viele Gründe. Die Männer werden in ihren Herkunftsländern gezwungen in den Krieg zu ziehen. Sie sind aufgrund traditioneller Geschlechterbilder häufiger als Frauen diejenigen, die politisch aktiv sind und geraten daher schneller in Konflikt mit den Mächtigen. Nicht zuletzt sollte man daran denken, dass so eine Flucht nach Europa lebensgefährlich ist. Da nimmt man nicht gleich Frau und Kinder mit. Ein Teil der asylsuchenden Männer ist also verheiratet. Flucht hat auch einen Kostenfaktor. Um überhaupt nach Europa zu kommen, müssen die Schleuser bezahlt werden. Viele Familien verkaufen ihren gesamten Besitz, damit einer fliehen kann.

Sie sprechen die Schicksale von Männern an. Gibt es denn auch einzelne Frauen oder sogar Kinder, die als Flüchtlinge nach Dresden kommen?

Oh ja. Minderjährige Flüchtlinge kommen auch allein hier an. Oft haben diese jungen Menschen auf der Flucht ihre Angehörigen aus den Augen verloren. Es gibt aber auch Fälle, da sind die Angehörigen auf der Flucht ums Leben gekommen oder die Heranwachsenden sind aus ihren Herkunftsländern allein beziehungsweise mit anderen Minderjährigen geflohen. Um mal ein paar Zahlen zu nennen: 2011 nahm der städtische Kinder- und Jugendnotdienst 42 allein reisende ausländische Kinder und Jugendliche auf, 2012 waren es 16, im Jahr 2013 dann 28. Die Hauptherkunftsländer waren Pakistan, Afghanistan, Kosovo und Syrien.

Natürlich kommen auch einzelne Frauen nach Dresden. Neben den genannten Gründen, die Männer zur Flucht veranlassen, fliehen Frauen auch vor Zwangsverheiratung, Genitalverstümmlung, häuslicher und sexualisierter Gewalt, vor Zwangsabtreibung, Zwangssterilisation, Vergewaltigung und Zwangsschwangerschaft.

Es ist daher bei weitem nicht so, dass „nur“ ledige Männer und Familien nach Dresden kommen. Dass von den asylsuchenden Männern ein Teil bereits verheiratet ist, sagte ich bereits. Das gilt auch für einen Teil der Frauen. Abschließend dazu noch ein Gedanke: Ich halte es auf Basis unseres Grundgesetztes, welches die Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, für vollkommen legitim, dass diese Menschen nach erfolgreichem Asylverfahren ihre Familien nach Deutschland holen wollen. Doch da gibt es dann neue Hürden zu überwinden...

Welchen Rat geben Sie den Dresdnerinnen und Dresdnern mit auf den Weg?

Angst vor Fremden ist menschlich. Viele Flüchtlinge fürchten sich vor uns, auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen. Und viele von uns fürchten sich vor den Flüchtlingen. Wir Deutschen sind keine einheitliche Gruppe – darauf legen wir in anderen Zusammenhängen immer sehr viel Wert.

Wir Menschen neigen jedoch dazu, uns ganz schnell als einheitliche Gruppe zu empfinden, wenn wir Angst vor Unbekanntem haben. Dann sind einige von uns sogar bereit, einen Teil ihrer Individualität und Selbstbestimmung zugunsten autoritärer, vermeintlich „gleichartiger“ Gruppierungen aufzugeben, denen sie sich unterordnen, um über das entstehende Gemeinschaftsgefühl Stärke und Sicherheit zurück zu erhalten. Das ist eine emotionale Reaktion, die in der Menschheitsentwicklung durchaus ihren Sinn hatte. Sie sollte aber im 21. Jahrhundert nicht mehr die Hauptform der Angstbewältigung sein. Da gibt es viel mehr Möglichkeiten. Ich denke an wertschätzende Gespräche, Nachfragen, persönliche Kontakte, ehrenamtliches Engagement und gemeinsame Aktivitäten. Unterstützen wir also zusammen die Menschen in Not. Das hilft beiden Seiten Berührungsängste abzubauen.